Sonntag, 24. November 2013

Röhm? Putsch? Sicher?

Kopiert und eingefügt aus »Das saubere Reich« (S. 127-135) von Hans Peter Bleuel.
DAS SAUBERE REICH

Bezeichnungen wie bürgerlich, bourgeois oder Spießer, die er gerne in Zusammenhang brachte, waren für den Sohn einer alten bayerischen Beamtenfamilie Schimpfworte. Mit seinen homoerotischen Anlagen hatte das wenig zu tun, auch wenn sie diesen Affront natürlich verschärften. Die Welt und das Lebenselexier des Ernst Röhm lagen außerhalb ziviler Begriffe und bürgerlicher Normvorstellungen. Seiner 1928 erschienenen Autobiographie gab er den selbstherrlichen Titel »Geschichte eines Hochverräters«, und noch nach der Machtergreifung, als sich die Parteigrößen in der Reichsführung zumindest um den Anschein privater Wohlanständigkeit bemühten, erklärte er einem ausländischen Diplomaten mit dem Gestus eines Kondottiere, daß er sich »eher mit einem gegnerischen Soldaten als mit einem deutschen Zivilisten verständigen würde; denn dieser ist ein Schwein, und ich verstehe seine Sprache nicht«.

Für den Hauptmann Röhm, dem Kompromisse zutiefst zuwider waren, ging der Krieg nie zu Ende. Auch deshalb mußte der Führer auf der letzten Strecke Weges zur totalen Macht sich seiner entledigen. Zuvor aber hatte er diesen organisatorisch hochbefähigten und arbeitswütigen Troupier, der keinerlei Skrupel kannte, gebraucht wie keinen anderen.

Hauptmann Röhm, der 1919 in Freikorps und Reichswehrdiensten zum Kampf gegen die Republik antrat, hatte dem kleinen V-Mann Hitler praktisch zur Erkenntnis seiner agitatorischen Fähigkeiten verholfen Er förderte den angehenden Parteipolitiker, indem er ihm die Verbindung zu den ob der patriotischen Schmach verbitterten Offizierskreisen im gärenden München herstellte. Er schuf durch Kontrolle der geheimen Munitionslager und Zusammenführung der rechtsrevolutionären Wehrverbände die Voraussetzungen, unter denen der Putschversuch im Jahre 1923 möglich wurde. Vor allem formte er dem Parteiführer aus einer hemdsärmeligen Saalschutztruppe eine schlagkräftige Privatarmee, die zum Durchsetzungsinstrument des nationalsozialistischen Terrors wurde.

Die erste Entfremdung zwischen den Duzfreunden fand während der Landsberger Haft Hitlers statt. Der rücksichtslose Landsknechttyp Röhm konnte sich keinen anderen Weg zur Macht als den der nackten Gewalt, der militanten Auseinandersetzung denken. Hitler aber entschloß sich unter dem Eindruck des gescheiterten Putsches zum »legalen Weg« der Unterwanderung und Aushöhlung des demokratischen Systems. Und dafür konnte er den kompromißlosen Haudegen Röhm zunächst nicht verwenden; seine eigene Autorität hätte eine fortgesetzte Gegnerschaft des SA-Gründers kaum unbeschädigt überstanden. Als Hitler 1925 mit dem Neuaufbau der Partei begann, mußte Röhm aus dem inneren Kreis ausscheiden und zog sich widerwillig zurück.

Klagen und Beschwerden über wüste Sauforgien und üble Ausschweifungen, über Korruption und Gemeinheit im Kreise des SA-Obersten waren schon zuvor reichlich eingegangen. In der braunen Miliz, die sich überwiegend aus entwurzelten Soldaten, verwilderten Freischärlern und dem halbkriminellen Bodensatz städtischer Elendsviertel zusammensetzte, wurde das weniger tragisch als selbstverständlich genommen. Man war ja auch sonst in der Wahl der Mittel nicht gerade zimperlich, und die Bewaffnung der Sturmabteilungen — Schlagringe, Gummiknüppel (»Radiergummi«), Eisenketten, Brechstangen, Messer, Revolver (»Feuerzeug«) — stammte ebenfalls aus dem Waffenarsenal der Halbwelt. In den Saal- und Straßenschlachten erwies sich Röhms SA jedenfalls als eine einsatzstarke und erfolgreiche Truppe, und das war auch für die Parteileitung der einzig wichtige Gesichtspunkt.

Seine homosexuelle Veranlagung entdeckte Röhm nach eigenem Geständnis erst 1924. »Ich kann mich vorher an eine Reihe auch gleichgeschlechtlicher Gefühle und Akte bis in meine Kindheit erinnern, habe aber auch mit vielen Frauen verkehrt. Allerdings nie mit besonderem Genuß. Auch drei Tripper habe ich mir erworben, was ich später als Strafe der Natur· für widernatürlichen Verkehr ansah.«

Um seinen Ruf hatte sich Röhm nie viel geschert. Beim Amtsgericht Berlin-Mitte wurde er unter dem Aktenzeichen 197 D 18/25 seine homosexuelle Natur gerichtskundig. Röhm hatte einen siebzehnjährigen Strichjungen mit dem klangvollen Namen Hermann Siegesmund wegen Diebstahls angezeigt. Er hatte ihn im Januar 1925 zuerst zu einem Glas Bier und dann auf sein Hotelzimmer eingeladen. Als Röhm ihm »einen mir widerlichen Geschlechtsverkehr abverlangte, auf den ich nicht eingehen konnte«, machte der prüde Lustknabe sich auf die Socken. Ganz zufällig — wie er aussagte — stellte er dann fest, daß er einen Gepäckschein mitgehen ließ, den er prompt gegen einen Koffer Röhms einlöste. In dem Gepäckstück steckten enthüllende Briefe, und Röhm erhob Klage.

Im Mai 1932 schrieb der einstige Parteigänger Hitlers, General Ludendorff: »Ich habe die Unterlagen dafür in Händen, daß Hitler schon im Jahre 1927 auf die ernsten Mißstände innerhalb der Organisation durch die gleichgeschlechtliche Veranlagung der Unterführer Röhm und Heines und im besonderen auf die Verseuchung der Hitlerjugend durch Heines hingewiesen worden ist. Herr Hitler lehnte zunächst die Enthebung der Genannten völlig ab.« Hitler lehnte die Entlassung der beiden nicht nur »zunächst« ab; er suspendierte sie lediglich einstweilig vom Dienst. Doch das hatte mit ihrer homosexuellen Veranlagung nichts zu tun. Edmund Heines jagte er im Mai 1927 davon, weil der Mann disziplinlos war und nicht parierte. Und er holte ihn vier Jahre später zurück, als er nach dem Stennes-Putsch für den verstoßenen SA-Führer Stennes einen scharfen, durchgreifenden Nachfolger brauchte. Und Röhm war ihm bei dem neuen SA-Konzept, das Franz Pfeffer von Salomon verwirklichen sollte, im Wege. Doch tat dies seiner freundschaftlichen Beziehung zu ihm keinen Abbruch. Sonst hätte der altbewährte Kämpfer — seit 1919 in der (damals noch Deutschen Arbeiter-)Partei — schwerlich so wohlgemut gehöhnt: »Mit dem Herrn Alfred Rosenberg, dem tölpelhaften Moralathleten, stehe ich in schärfstem Kampf. Seine Artikel sind auch vor allem an meine Adresse gerichtet, da ich aus meiner Einstellung kein Hehl mache. Das mögen Sie daraus ersehen, daß ›man‹ sich bei mir eben an diese verbrecherische Eigenheit in den nationalsoz. Kreisen hat gewöhnen müssen.«

Kurze Zeit später saß der Reichswehrhauptmann a. D. als Oberstleutnant im Generalstab der bolivianischen Armee. Hitler hatte ihn allerdings mitnichten dorthin abgeschoben, wie Ludendorff meinte, sondern Röhm war dem unverhofften Ruf als militärischer Instrukteur nach Südamerika gerne gefolgt: »Ich kann so prüfen, ob mein Geist noch aufnahmefähig ist oder nicht.« Mit seiner Arbeit war der Entwicklungshelfer ganz zufrieden. Arge Pein bereitete ihm aber der sexuelle Notstand Boliviens, in dem »die von mir bevorzugte Art der Betätigung« unbekannt zu sein schien. Von fern her sandte er an den Gesinnungsfreund Dr. Heimsoth bewegte Klage: »Da steh ich nun, ich armer, Tor, und weiß gar nicht, was ich machen soll. Traurig denke ich an das schöne Berlin zurück, wo man so glücklich sein kann.« Mit der Zeit verstand er es zwar, »bei bescheidenen Ansprüchen« seinem Drang Linderung zu verschaffen, aber das Heimweh verließ ihn nicht. »Was sie über Berlin schreiben, hat wieder alle meine Sehnsucht nach dieser einzigen Stadt erweckt. Herrgott, ich zähle schon die Tage, wo ich wieder dort sein kann, und will hier wirklich, wenn's einmal möglich ist, sparen, damit ich dort etwas vom Leben habe. Das Dampfbad dort ist aber doch m. A. nach der Gipfel alles menschlichen Glücks. Jedenfalls hat mir dort die Art und Weise des Verkehrs ganz besonders gefallen. An Frenzel sagen Sie besonders hzl. Gruß; auch wenn Sie meine übrigen schwarzen Bekannten — dieser Typ ist mein Ideal — im Bade oder Dampfbad wiedersehen.« Er erinnerte sich auch an des Briefpartners »so berückend schöne Bildersammlung einschlägiger Szenen« und bat ihn, ihm einige Bildchen zu schicken.

Röhm brauchte nicht mehr lange die Tage zu zählen. Im Herbst 1930 setzte Hitler seinen Obersten SA-Führer Pfeffer von Salomon ab und ernannte sich selbst zurn OSAF. Der richtige Typ, die durcheinandergeratene 100 000-Mann-Armee wieder zu straffen und zu organisieren, schien ihm jetzt sein homosexueller Mann in La Paz. Hitler erinnerte den lieben Ernst an alte Treue, und im Januar 1931 trat Röhm sein neues altes Amt als Stabschef der SA an. Neu an dieser Situation war, daß ihm nun Hitler als oberster SA-Herr vorstand.

Der Chef machte ihm am 3. 2. 1931 den Weg frei von störenden Zwischenrufen, mit einem Erlaß, wie er eindeutiger kaum gedacht werden kann. »Der Obersten SA-Führung liegen eine Reihe von Meldungen und Anzeigen vor, die sich gegen SA-Führer und -Männer richten und vor allem Angriffe wegen des Privatlebens dieser Persönlichkeiten enthalten.

Die Prüfung ergibt meist, daß es sich um Dinge handelt, die gänzlich außerhalb des Rahmens des SA-Dienstes liegen. Vielfach sind einfach Angriffe politischer oder persönlicher Gegner ohne weiteres übernommen.

Den obersten und oberen SA-Führern wird zugemutet, über diese Dinge, die rein auf privatem Gebiet liegen, Entscheidungen zu treffen. Ich weise diese Zumutung grundsätzlich und in aller Schärfe zurück.

Abgesehen davon, daß wertvolle Zeit, die im Freiheitskampf notwendiger ist, nutzlos vertan wird, muß ich feststellen, daß die SA eine Zusammenfassung von Männern zu einem bestimmten politischen Zweck ist. Sie ist keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern, sondern ein Verband rauher Kämpfer. Aufgabe der Prüfung kann hier nur sein, ob der SA-Führer oder -Mann in der SA seine Dienstpflicht erfüllt oder nicht. Das Privatleben kann nur dann Gegenstand der Betrachtung sein, wenn es wesentlichen Grundsätzen der nationalsozialistischen Anschauung zuwiderläuft.«

Das war im Falle Röhm offensichtlich nicht der Fall. Hitler drohte an: Man werde in Zukunft prüfen müssen, ob nicht der Denunziant zur Verantwortung zu ziehen sei, weil er im Verband rauher Kämpfer Unfrieden stifte.

Mit diesem Freibrief seines Führers in der Hand organisierte Röhm nicht nur zu dessen höchster Zufriedenheit die neue SA, sondern zur eigenen Befriedigung auch seinen persönlichen Verkehr. Neben anderen schleppte ihm Peter Granninger, sinnigerweise in der SA-Nachrichtenabteilung eingestellt und aus eigener Erfahrung mit den sexuellen Ansprüchen des Stabschefs vertraut, die gewünschten Sexpartner heran. 200 Mark kassierte er monatlich für seine Dienste, die sich auch auf Schüler und Lehrlinge erstreckten. Im Münchner »Bratwurstglöckl« lebte die alte Stammtischrunde Röhms wieder auf. Heines war wieder dabei, Karl Ernst erschien aus Berlin und mancher neue SA-Obere, der seinen Rang vornehmlich gleichgeschlechtlichen Leistungen verdankte. In der Partei wurde heftiger Unwillen laut, aber Hitler hatte taube Ohren.

Als im März 1932 Röhms Klagebriefe aus Bolivien an die Öffentlichkeit kamen — der Zwischenträger blieb unbekannt -, versuchte der oberste Parteirichter, Walter Buch, auf eigene Faust für sittliche Läuterung in der SA-Spitze zu sorgen. Er beklagte sich bei einem alten badischen Kumpel aus der Frühzeit der SA über Verrat und homosexuelle Umtriebe in der Partei und nannte Namen. Emil Traugott Danzeisen verstand und mobilisierte eine ad-hoc-Einsatzgruppe unter Karl Hom. Ihr Auftrag: Ein Herr Bell sollte mit dem Hammer erschlagen und aufgehängt werden, Stabsführer Julius Uhl desgleichen und endlich auch Röhm. Den Anfang sollten die Attentäter mit dem alten Röhm-Vertrauten und Nachrichtenchef der SA machen, mit Karl Leonhardt Graf Du Moulin-Eckart. Doch statt den Grafen mit einem fingierten Autounfall aus dem Leben zu befördern, ging Hom zu ihm und petzte. Die Autorschaft Buchs kam heraus. Himmler stellte ihn zur Rede.

Doch die Geschichte blieb nicht intern, und dies nicht nur, well Du Moulin und sein Kollege Graf Spreti den Parteirichter Buch und seine Gesellen bei einem ordentlichen Gericht angezeigt hatten. (Verurteilt wurde im Oktober 1932 nur Danzeisen zu sechs Monaten wegen Mordanstiftung!) Auch Röhm und sein Adlatus Georg Bell hatten es mit der Angst bekommen und ihr Heil in der Flucht gesucht.

Bell, der auch für die Sozialdemokraten als Konfident diente, war beim Auftauchen der lästigen Briefe von Röhm zu einem alten Kameraden aus Reichswehrtagen geschickt worden. Der Major Karl Mayr stand jetzt im republikanischen »Reichsbanner« auf der anderen Seite — und ausgerechnet er sollte Röhm nun garantieren, daß die Briefe in der SPD-Presse nicht mehr veröffentlicht würden! Doch noch schlimmer: Zu dem Mann flüchteten Röhm und Bell nun am 1. April 1932 und erbaten Material gegen den SA-Genossen Paul Schulz, den sie als Urheber der Anschläge wähnten. Und ein paar Tage spater ging Bell auch noch zum sozialdemokratischen Vorwärts und schwärzte die braune Prominenz an.

Das war denn doch zuviel. Der Schwiegersohn des Sittenrichters Buch, Martin Bormann, sandte seinem Chef Rudolf Heß in den Dachauer Urlaub ein empörtes Schreiben: »Ich habe auch nichts gegen die Person Röhms an sich. Meinetwegen mag sich jemand in Hinterindien mit Elefanten und in Australien mit Känguruhs abgeben, es ist mir herzlich gleichgültig.« Aber: »Jedem SA-Mann, jedem einfachen Parteigenossen wird eingeremst, und für den Fall Röhm war das besonders nötig, daß er seine Kameraden, seine Führer auch bei Vorliegen von Fehlern bis zum letzten zu decken habe — der prominenteste SA-Führer geht hin und verleugnet und verleumdet in dieser krassen Art und Weise. Wenn der Führer diesen Mann nach diesem Vorgehen noch hält, so verstehe auch ich ihn, wie schon zahllose andere, nicht mehr und das ist auch nicht zu verstehen.« Der Führer hielt diesen Mann Röhm völlig unbeirrt, und Bormann lernte den Führer ja später besser verstehen.

Brach solcher »Parteiverrat« dem alten Freund schon nicht das Genick, so erst recht nicht seine homosexuelle Ader. Am 4. April 1932 beantragte Röhm eine einstweilige Verfügung gegen die Verbreitung seiner intimen Bekenntnisse. Sie wurde abgelehnt, weil Röhm nicht bestritt, diese Briefe geschrieben zu haben. Zwei Tage darauf unterzeichnete Hitler ein Flugblatt mit der Ehrenerklärung seines SA-Führers: »Röhm bleibt mein Stabschef jetzt und nach den Wahlen. An dieser Tatsache wird auch die schmutzigste und widerlichste Hetze, die vor Verfälschungen, Gesetzesverletzungen und Amtsmißbrauch nicht zurückschreckt und ihre gesetzesmäßige Sühne finden wird, nichts ändern.« Das war auch eine Interpretation für eine einwandfreie Tatsachenfeststellung und einen abgewiesenen Verfügungsantrag.

Röhm versuchte es beim Landgericht München I knapp drei Wochen später noch einmal und scheiterte an der gleichen Begründung. Auf die zweite Beschwerde hin setzte das Oberlandesgericht München eine mündliche Verhandlung an — und wies am 20. Juli die einstweilige Verfügung abermals ab. Röhm legte Einspruch ein — und zog ihn am 7. September wieder zurück. Nicht schnell genug, allerdings, denn zuvor noch konnte Oberlandesgerichtsrat Dr. Kemmer unter Eid erklären, daß ihm Röhm die Echtheit der drei Briefe bestätigt habe.

Törichter und dreister konnte der Stabschef seine homosexuelle Veranlagung kaum in den Wind schreiben. Es wurde allmählich auch alten Parteifreunden zuviel. Der bewährte Hitlerförderer und ultrareaktionäre Verlagsherr J. F. Lehmann schickte einen Beschwerdebrief in die Reichsleitung der NSDAP. Er klagte dem Dr. Stellrecht, daß Röhm allseits das Ansehen der Partei schädige. Der Führer solle ihn durch stillschweigenden Rücktritt verschwinden lassen, weil Röhm in SA und SS die Führerstellen nach seinen Neigungen besetze. »Der Fisch stinkt vom Kopf ... «

Den Parteiführer störte der Gestank nicht. Er brauchte den tüchtigen Söldnerführer Röhm und mochte die Schlagkraft seiner tadellos funktionierenden Bürgerkriegsarmee jetzt nicht moralischer Skrupel wegen aufs Spiel setzen. Auch den Reichskanzler Hitler störte zwar der Machtanspruch seines Stabschefs und Reichsministers Röhm, der dauernd von der zweiten Revolution dröhnte, aber nicht der moralische Gestank. Der starke Mann im Staate, dessen 500 000-Mann-Heer auch die Reichswehr zu fürchten hatte, entwarf sich dafür einen Tagesbefehl, mit dem er es all diesen »Zivilistenschweinen« zeigen wollte: »Ich will das Oberhandnehmen derartiger, oft geradezu lächerlicher Auswüchse von Prüderie und Schlimmerem zum Anlaß nehmen, um einmal eindeutig festzustellen, daß die deutsche Revolution nicht von Spießern, Muckern und Sittlichkeitsaposteln gewonnen worden ist, sondern von revolutionären Kämpfern. Diese allein werden sie auch sichern. Die Aufgabe der SA besteht nicht darin, über Anzug, Gesichtspflege und Keuschheit anderer zu wachen, sondern Deutschland durch ihre freie und revolutionäre Kampfgesinnung hochzureißen.

Ich verbiete daher sämtlichen Führern und Männern der SA und SS, ihre Aktivität auf diesem Boden einzusetzen und sich zum Handlanger verschrobener Moralästheten herzugeben. Das gilt vor allem auch für diejenigen SA- und SS-Führer, die von mir als Polizeipräsidenten oder für sonstige staatliche Stellen zur Verfügung gestellt sind. Der Chef des Stabes. Röhm.«

Der Stabschef lebte goldene Tage in seiner geliebten Stadt Berlin, wo man im »Kleist-Kasino«, in der »Silhouette« oder im Dampfbad so glücklich sein konnte. Dazu kamen rauschende Gelage und Orgien in seinem Hauptquartier. Das anzügliche Mai-Datum ließ er sich auch im Jahre 1934 nicht entgehen und verschickte Billettchen an liebe Freunde: »Stabschef Ernst Röhm würde sich freuen, Brigadeführer Adolf Koch zum Bowlenabend am Donnerstag, den 17. Mai um 21 Uhr, bei sich zu sehen.«

Sechs Wochen später war Röhm tot. Hitler ließ ihn umbringen, weil er ihm beim Ausgleich mit der Reichswehr im Wege war. Er suchte diesen Ausgleich, um nach Hindenburgs baldigem Tod auch noch Reichspräsident werden zu können. Himmler und Göring inszenierten den sogenannten Röhm-Putsch, das Blutbad des 30. Juni, um einen starken Konkurrenten auszuschalten und zugleich einen Haufen konservativer Gegner zu beseitigen und einen Stapel alter Rechnungen zu begleichen.

Vorbereitungen zu einem Putsch der SA hat es nie gegeben, auch wenn Hitler das kurze Zeit seinen beiden Einbläsern geglaubt haben wollte. Doch das war nicht die Ursache für Röhms Ermordung. Die Reichspressestelle verlautbarte auch: »Seine bekannte unglückliche Veranlagung führte allmählich zu so unerträglichen Belastungen, daß der Führer der Bewegung und Oberste Führer der SA selbst in schwerste Gewissenskonflikte getrieben wurde.«

Das stimmte noch viel weniger. Die homosexuellen Neigungen und Umtriebe seines Freundes Ernst waren dem Führer vollkommen gleichgültig. Solange er ihn brauchen konnte, schirmte er Röhm mit seiner ganzen Autorität gegen Angriffe ab.