Sonntag, 29. Dezember 2013

Ein Interview mit Roger Waters

Über Musik, »Justice Around the World« (inkl. Palästina) und die politische Rolle von Künstlern.
An Interview with Roger Waters

6. Dezember 2013 — Frank Barat: Wann trafen Sie die Entscheidung, die »Wall«-Tournee (die im September 2013 in Paris endete) so politisch zu machen? Und warum widmeten Sie das letzte Konzert Jean-Charles De Menezes?

Roger Waters: Das erste Konzert war am 14. Oktober 2010. Wir fingen mit Sean Evans im Jahr 2009 an, am Inhalt zu arbeiten. Ich hatte bereits beschlossen, es weitaus politischer zu machen als 1979 bis 1980. Es sollte mehr sein als dieser wiehernde kleine Kerl, der seine Lehrer nicht mochte. Es mußte etwas Allgemeineres sein. Darum kamen die »fallen loved ones« hinein (das Konzert zeigt Bilder von Menschen, die in Kriegen starben), um das Gefühl von Trauer und Verlust zu verallgemeinern, die wir gegenüber im Kampf getöteten Familienmitgliedern empfinden. Was auch immer die Kriege oder Umstände sind, sie (in der nichtwestlichen Welt) empfinden so viel Verlust wie wir. Kriege wurden zu einem wichtigen Symbol, wegen der Trennung zwischen »uns und denen«, was für alle Konflikte grundlegend ist.

Was Jean-Charles betrifft, wir spielten am Ende von »Brick II« drei Solos, und ich entschied, daß drei Solos zu viel waren, mir wurde es langweilig. Eines Nachts, als ich in einem Hotelzimmer saß, dachte ich also darüber nach, was ich stattdessen tun könnte. Jemand hatte mir vor kurzem ein Foto von Jean-Charles De Menezes für »The Wall« geschickt. Er war also in meinem Kopf und ich dachte über einen Song über seine Geschichte nach. Ich schrieb diesen Song, spielte ihn mit der Band ein, und das war's.

FB: Viele Künstler würden sagen, daß es falsch ist, Kunst und Politik zu mischen. Daß sie nur das Ziel haben, zu unterhalten. Was würden Sie diesen Leuten sagen?

RW: Es ist lustig, daß Sie das sagen, weil ich gerade gestern den Text für ein neues Stück für ein neues Album von mir beendete. Es geht um einen Großvater in Nordirland, der sich mit seinem Enkel aufmacht, um die Antwort auf die Frage »Warum töten sie Kinder?« zu finden, weil das Kind darüber wirklich besorgt ist. Ich beschloß, am Ende etwas hinzuzufügen. In dem Lied fragt das Kind seinen Opa: »War es das?« Und der Opa antwortet: »Nein, so können wir nicht aufhören.« Ein neues Lied beginnt und der Opa hält eine Rede. Er sagt: »Wir leben auf einem kleinen Punkt in der Mitte von verdammt viel Nichts. Und jetzt, wenn dich das alles nicht interessiert, wenn du einer von denen bist, die meinen, ›Roger, ich liebe Pink Floyd, aber ich hasse deine verdammte Politik‹, wenn du glaubst, Künstler sollte stumm sein, entmannt, Wackelhunde ohne Ziel auf dem Armaturenbrett des Lebens, wärest du gut beraten, jetzt in Richtung Bar zu veschwinden, denn die Zeit läuft weg.« Das ist meine Antwort auf Ihre Frage.

FB: Wann wird das Album erscheinen?

RW: Ich habe keine Idee. Ich arbeite an vielen alten Projekten. Ich werde dieses erst einmal Sean Evans zum Anhören geben. Er kommt morgen zu mir nach Hause, um es sich anzuhören. Ich habe eine Demo gemacht, die eine Stunde und sechs Minuten lang ist. Ich gebe zu, es ist ziemlich viel, aber ich hoffe, daß auch etwas Humor darin ist, es ist aber sehr radikal und wirft sehr wichtige Fragen auf.

Wenn ich der einzige bin, der das tut, bin ich voll und ganz zufrieden, wie Sie sehen. Ich meine, ich bin es nicht, ich wünschte, es gäbe mehr Leute, die über Politik und unsere reale Situation schreiben. Selbst wenn es als extrem betrachtet werden könnte. Es ist sehr wichtig, daß Goya tat, was er tat, das Gleiche gilt für Picasso und Guernica und all die Anti-Kriegsromane, die während und nach dem Vietnam-Krieg herauskamen.

FB: Sie sprechen über sich als einen der wenigen in Ihrer Position, der radikale politische Positionen vertritt. Wenn es um Palästina geht, sind Sie sehr offen über Ihre Unterstützung für einen kulturellen Boykott Israels. Menschen, die gegen diese Taktik sind, sagen, daß Kultur nicht boykottiert werden sollte. Was würden Sie darauf antworten?

RW: Ich würde sagen, daß ich ihre Meinung verstehe. Jeder sollte eine haben. Aber ich kann ihnen nicht zustimmen, ich denke, daß sie einem völligen Irrtum unterliegen. Die Situation in Israel/Palästina mit der Besetzung und den ethnischen Säuberungen und der systematischen rassistischen Apartheid des israelischen Regimes ist nicht akzeptabel. Also ist es für einen Künstler schlichtweg falsch, für einen Auftritt in ein Land zu gehen, daß das Land anderer Völker besetzt und sie so unterdrückt, wie Israel es tut. Sie sollten nein sagen. Ich würde im Zweiten Weltkrieg nicht für die Vichy-Regierung im besetzten Frankreich gespielt haben, ich würde in dieser Zeit auch nicht in Berlin gespielt haben. Viele Menschen haben es damals getan. Es gab viele Menschen, die behaupteten, daß die Unterdrückung der Juden nicht passierte. Von 1933 bis 1946. Das ist also kein neues Szenario. Abgesehen davon, daß es dieses Mal das palästinensische Volk ist, das ermordet wird.

Es ist die Pflicht eines jeden denkenden Menschen, zu fragen: »Was kann ich tun?« Jeder, der sich die Situation ansieht, wird sehen, daß, wenn Sie sich entscheiden, nicht zu Waffen zu greifen, um Ihren Unterdrücker zu bekämpfen, der gewaltfreie Weg und die Bewegung für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (B.D.S.), die in den Jahren 2004-2005 in Palästina mit 100%iger Unterstützung der palästinensischen Zivilgesellschaft begann, eine Bewegung, der sich inzwischen viele Menschen auf der ganzen Welt angeschlossen haben, eine legitime Form von Widerstand gegen dieses brutale und repressive Regime sind.

Ich habe Max Blumenthals Buch »Goliath: Life and Loathing in Greater Israel« fast fertig gelesen. Es ist eine erschreckende Lektüre. Es ist aus meiner Sicht sehr gut geschrieben. Er ist ein sehr guter Journalist und bestrebt, daß das, was er schreibt, richtig ist. Er gibt auch der anderen Seite eine Stimme. Beispielsweise der Stimme des rechten Rabbinats, die so bizarr ist, daß man kaum glauben kann, daß es real ist. Sie glauben einige sehr seltsame Dinge, sie glauben, daß jeder, der kein Jude ist, nur auf der Erde ist, um ihnen zu dienen, und sie glauben, daß die Ureinwohner der Region, die sie im Jahr 1948 aus dem Land warfen und seitdem weiterhin aus dem Land werfen, Untermenschen sind.

Die Parallelen zu dem, was in den 30er Jahren in Deutschland vor sich ging, sind so vernichtend offensichtlich, daß es mich nicht überrascht, daß die Bewegung, an der Sie und ich teilhaben, jeden Tag wächst. Das »Russell-Tribunal zu Palästina« versuchte Licht darauf zu werfen, als wir uns trafen; ich nahm nur an zwei Sitzungen teil, Sie an viel mehr. Es ist ein extrem offensichtliches und grundlegendes Problem der Menschenrechte, dem sich jeder denkende Mensch widmen sollte.

FB: Das Erschreckende daran ist, daß das extreme Rabbinat mit den rechtsextremen Ansichten über die Palästinenser und die Nichtjuden eine zunehmend prominente Stelle im Denken der israelischen Gesellschaft, des Regimes und der Machtstruktur einnehmen, und das ist sehr beängstigend.

Ich will an den kulturellen Boykott anschließen und an die Tatsache, daß Sie einer der wenigen sind, der eine solche Stellung bezieht. Sie könnten, denke ich, wie viele andere auch, die Vorteile Ihres Erfolgs genießen und zumindest politisch ein ruhiges, unkontroverses Leben führen. Warum tun Sie es, und noch wichtiger, was denken Sie ist der Grund, warum er nicht mehr Menschen tun? Warum berühren viele Künstler, die oft Stellung gegen Kriege beziehen, nicht Palästina?


RW: Nun, wo ich lebe, in den USA, denke ich, A, sie sind ängstlich und B, ich denke, die Propaganda-Maschine, die in israelischen Schulen beginnt und durch all das Netanjahu-Getöse fortgesetzt wird, das über die gesamten Vereinigten Staaten geschüttet wird, nicht nur durch FOX NEWS, sondern auch durch CNN und eigentlich durch alle Massenmedien. Es ist wie ein riesiger Eimer Sch***e, den sie in den Mund einer aus meiner Sicht nach leichtgläubigen Öffentlichkeit schütten, wenn sie sagen: »Wir haben Angst vor dem Iran, er wird Atomwaffen bekommen.« Es ist ein Ablenkungsmanöver.

Die Lüge, die sie in den letzten 20 Jahren erzählt haben, ist: »Oh, wir wollen Frieden.« Und sie reden über Clinton und Arafat und Barak in Camp David und daß sie sehr nahe an eine Vereinbarung kamen, und die Geschichte, die sie verkauften, war: »Oh, Arafat hat sie alle gef***t.« Nun, nein, hat er nicht. Dies ist nicht die Geschichte. Tatsache ist, daß es seit 1948 keine israelische Regierung ernst meinte, einen palästinensischen Staat zu schaffen. Sie haben schon immer die Ben-Gurion-Agenda gehabt, alle Araber aus dem Land zu werfen und Groß-Israel zu werden.

Sie erzählen eine Lüge als Teil ihrer Propaganda-Maschinerie, während sie die andere Sache tun, aber es ist so offensichtlich, daß sie es in den letzten 10 Jahren getan haben. Zum Beispiel, selbst als Obama nach Kairo ging und diese Rede über die Araber und Israelis hielt, hieß es bei allen: »Oh, das ist zumindest ein Schritt in eine neue Richtung.« Aber sobald er Israel besuchte ,sagten sie: »Ach übrigens, wir bauen weitere 1200 Siedlungen.«

Genau das gleiche, als Kerry im letzten Jahr sagte: »Oh, ich werde versuchen, die Seiten zusammenzubringen und über Frieden reden.« Netanhayu sagte: »F*** dich. Wir werden weitere 1.500 Siedlungen bauen und wir werden sie in E1 bauen, das ist unser Plan.« Das ist so durchsichtig, daß man einen IQ über der Zimmertemperatur haben müßte, um nicht zu verstehen, was vor sich geht. Es ist einfach nur blöd.

Am nächsten Tag las ich einen Artikel, in dem es hieß, »offenbar glaubt nur der US-Außenminister, daß diese aktuellen Friedensgespräche real sind, ansonsten tut es auf der Welt niemand«.

Es ist eine sehr komplizierte Situation, weshalb Sie und ich und alle anderen Menschen auf der Welt, die sich um ihre Brüder und Schwestern sorgen, nicht nur um die Menschen unseres eigenen Glaubens, unserer eigenen Farbe, unserer eigenen Rasse oder unserer eigenen was auch immer, sich Schulter an Schulter solidarisch zeigen müssen. Das war besonders, wo ich in den USA lebe, sehr schwer zu verkaufen.

Die jüdische Lobby ist hier außergewöhnlich mächtig und besonders in der Industrie, in der ich arbeite, in der Musikindustrie, und im Rock'n Roll, wie sie sagen. Ich verspreche Ihnen, ohne Namen zu nennen, ich habe Menschen gesprochen, die Angst haben, daß wenn sie gef***t werden, wenn sie mit mir Schulter an Schulter stehen. Sie haben mir gesagt, »machst du dir keine Sorgen um dein Leben?«, und ich: »Nein, mache ich nicht.«

Vor ein paar Jahren war ich auf Tournee und mitten in der Tournee passierte 9/11 und 2 oder 3 Leute aus meiner Band, die zufällig US-Bürger sind, wollten nicht zur nächsten Etappe der Tournee kommen. Ich sagte, »Warum nicht? Gefälllt dir die Musik nicht mehr?«, und sie antworteten, »Nein, wir lieben die Musik, aber wir sind Amerikaner und es ist zu gefährlich für uns, ins Ausland zu reisen, sie versuchen, uns zu töten«, und ich dachte: »Wow!«

FB: Ja, die Gehirnwäsche funktioniert!

RW: Offensichtlich ja, deshalb bin ich glücklich, dieses Interview mit Ihnen zu machen, weil es super wichtig ist, daß wir so viel Lärm wie möglich machen. Ich bin so froh, daß diese rechte Zeitung in Israel, YEDIOTH AHRONOTH, mein Interview mit Alon Hadar druckte. Zumindest druckten sie es. Obwohl sie den Kontext änderten und es anders klingen ließen, als es tatsächlich war, aber zumindest haben sie etwas gedruckt. Sie wissen, ich hätte erwartet, vollständig unterdrückt und ignoriert zu werden.

Sie wissen, daß mir Shuki Weiss (ein unübertroffener israelischer Organisator) vor ein paar Monaten hunderttausend Menschen zu hundert Dollar pro Ticket anbot, um in Tel Aviv zu spielen! »Moment mal, das sind 10 Millionen Dollar«, wie konnten sie mir das anbieten?! Und ich dachte, Shuki, bist du verdammt noch mal taub oder einfach nur dumm?! Ich bin Teil der BDS-Bewegung, ich werde in Israel nirgendwohin gehen, für kein Geld, alles, was ich machen würde, wäre, die Politik der Regierung zu legitimieren.

Ich muß Ihnen etwas gestehen. Ich habe vor ein paar Wochen tatsächlich an Cindy Lauper geschrieben. Ich veröffentlich den Brief nicht, aber ich schrieb ihr einen Brief, weil ich sie ein wenig kenne, sie arbeitete mit mir in Berlin an »The Wall«, weshalb ich es super schwer zu verstehen fand, daß sie am 4. Januar in Tel Aviv ein Konzert gibt -- in meinen Augen offensichtlich ganz besonders verwerflich, aber ich kenne nicht ihre persönliche Geschichte und die Leute müssen über diese Dinge ihre eigenen Entscheidungen treffen. Man kann da nicht zu persönlich werden.

FB: Sicher, aber ich denke, Sie können ihnen helfen, durch das, was Sie tun, indem Sie ihnen schreiben. Sie können ihnen die Augen öffnen,denn ich denke, es ist das, was sie brauchen.

RW: Ja, aber um ihnen die Augen zu öffnen, müßten sie entweder das Heilige Land, das Westjordanland, den Gazastreifen oder sogar Israel und die einzelnen Kontrollpunkte besuchen und sehen, wie es dort ist. Alles, was sie tun müßten, wäre ein Besuch, oder ein Buch zu lesen! Prüfen Sie die Geschichte. Lesen Sie Max Blumenthals Buch. Und dann sagen Sie: »Oh, ich weiß, was ich tun werde, ich werde in Tel Aviv spielen.« Das wäre ein guter Plan! (sarkastischer Ton.)
Hier finden Sie den Originalartikel, An Interview with Roger Waters.