Dienstag, 24. Juni 2014

Die Rolle der Bösewichte

Kopiert und eingefügt aus »Der zerdachte Staat« von Walter Wannenmacher (S. 92-101) von 1979.
Der zerdachte Staat

Im Genom des religiösen Menschen war die Verzichtbereitschaft »eingeschrieben«, weil die Vorfahren immer wieder die arterhaltende Zweckmäßigkeit des Verzichts erlebten. Ohne diese transzendental fundierte Verzichtbereitschaft hätten die von Menschen gebildeten staatlichen Systeme nicht überleben können. Sie gingen auch regelmäßig zugrunde, als sich die »strenge Sitte der Väter« lockerte und Ansprüche auf gesteigerten Lustgewinn immer weniger auf traditionelle Hemmungen stießen. Ein der Automatik der in seinem Genom gespeicherten Hemmungen unterworfener Untertan war daher ebenso bequem regierbar wie in den Einpartei-Systemen der unter Spitzelfurcht aufwachsende »Bürger«.

Die Mechanisierung der Umwelt des Menschen ist offenbar mit einer schnellen Rückbildung traditioneller Hemmungen – nicht nur religiöser Art – verbunden. Die mit einem Knopfdruck erzielbaren Annehmlichkeiten wuchsen so rasch, daß es zu einer Atrophie zunächst der Sparsamkeitshemmungen kam. Gewiß löschte der großherzoglich weimarische Posthalter sein ÖlIämpchen, wenn er nicht dringend Licht brauchte. Der Tankstellenwart jedoch vergißt nicht nur das Abdrehen des Lichtschalters, er läßt auch ein Elektrogerät weiterlaufen, wenn er gerade etwas anderes im Kopf hat, und – das ist wesentlich – er bereut nicht einmal sein Versehen, das schließlich sein eigenes Geld kostet. »Es spielt doch keine Rolle«, wird er sagen, wenn er einen etwas verbeulten, aber noch gut brauchbaren Kanister in den Mülleimer wirft, und er wird auch »Notgroschen« für überflüssig halten, da er gegen Krankheit und Alter versichert ist.

Bei alten Menschen, die knappe Zeiten erlebt haben, kann man heute noch die Automatik eingebauter Hemmungen gegen das Wegwerfen irgendwelcher Dinge beobachten, eine Hemmung, die in der Tat oft ins Leere geht, da der neue Kühlschrank nicht viel mehr kostet als die Reparatur des alten. Bei allen Lebewesen werden Fähigkeiten, die nicht betätigt werden, mit der Zeit rückgebildet. Daher wird in der modernen Überflußgesellschaft auch die Fähigkeit zum Verzicht rückgebildet, und zwar nicht nur dort, wo sie, wie im Falle eines reparaturbedürftigen Geräts, wirklich überflüssig wurde, sondern generell.

Der Mensch entwöhnt sich des Verzichts. Er sieht nicht ein, weshalb er sich ein Vergnügen entgehen lassen sollte, ein Vergnügen, von dem keineswegs mit Bestimmtheit, sondern nur mit einer dehnbaren Wahrscheinlichkeitsquote unangenehme Folgen zu erwarten sind – wie etwa beim Zigarettenkonsum, beim unvorsichtigen Überholen auf der Straße, beim Rauschgift, beim Ausflug ins Hochgebirge. Es lockt der Emotionstrieb (Nervenkitzel der Gefahr) und der Geltungstrieb (den andern zeigen, was sie für Tröpfe sind). Man wünscht, weder als Pessimist noch als Feigling zu gelten. Die Einsicht in die Risikoträchtigkeit des Vergnügens erweist sich als zu schwacher Hemmungsfaktor. Weil sie sich nur auf die Ratio stützt, nicht auf die eingebaute Automatik des Selbsterhaltungstriebes, die das unschuldige Tier daran hindert, überflüssige Wagnisse einzugehen.

Soweit das ökologisch Zweckmäßige sich nur auf eine, wenngleich hohe, Wahrscheinlichkeitserwartung stützen kann, wird es gegen das ökonomisch Zweckmäßige, das sich auf gegenwärtige Annehmlichkeiten stützt, den Kürzeren ziehen, unabhängig davon, inwieweit die Zahl der dem Menschen begreiflichen Mechanismen wächst. Denn ihr Wachstum verdunkelt zugleich die Möglichkeiten einsichtigen Verhaltens. Zumal es kaum Fakten gibt, die die Annahme stützen könnten, das vernunftgesteuerte Verhalten gewinne gegenüber dem impulsgesteuerten Verhalten an Gewicht. Gegen diese Annahme spricht nicht allein die steigende Nikotin- und Alkoholkonsum-Kopfquote, sondern vor allem die steigende Kriminalität.

Der Impuls, sich nicht staatsordnungsgemäß wünschenswert zu verhalten, stößt normalerweise an die Verdrängungsschranke des Ichwert-Bewußtseins. Funktioniert diese Schranke nicht, gibt es noch eine zweite: die Furcht, ertappt zu werden. Die Möglichkeit einer allgegenwärtigen Polizei, mit der die Staatskunst der kommunistischen Einpartei-Systeme arbeitet, erklärt das dort ausgezeichnete Funktionieren dieser zweiten Schranke, das die Schwächen der ersten Schranke weitgehend kompensiert.

Wurde ein Delikt begangen, haben bei dem Täter beide Schranken nicht funktioniert. Wer Gelegenheit hatte, mit Tätern eine vertrauensvolle Anamnese zu betreiben, wird entdecken, daß die Funktionsunfähigkeit der Schranke nicht durch ein Fehlen des Ichwert-Bewußtseins bewirkt wurde, sondern durch seine Veränderung. Diese Veränderung bewirkte, daß sich der Täter zu seiner Tat legitimiert fühlte. Infolge dieser Veränderung, die struktureller Natur ist, scheitern die meisten Resozialisierungsversuche. Will sich jemand nicht staatsordnungsgemäß wünschenswert verhalten, dann ist in ihm das, was einst den Übergang von der Horde zum Staat ermöglichte, rückgebildet worden. Zu diagnostizieren ist diese Rückbildung mit der Frage, an was der Betreffende denkt, wenn er »wir« sagt.

Was veranlaßt eine größere Anzahl von Menschen, solidarisch zu handeln? Nehmen wir beispielsweise einen Kleintierzüchterverein. Das gemeinsame Hobby bedingt gemeinsame Interessen, die zur Abwehr entgegenstehender Interessen gemeinsam wahrgenommen werden. Die ursprünglich gefühlskalte Interessengemeinschaft wird bei dieser Wahrnehmung ein Wir-Gefühl entwickeIn, es entsteht das Feldgeschrei »Wir Kaninchenzüchter«, weil es andere Leute gibt, die sich wegen der Geruchsbelästigung durch die Kaninchenställe beschweren.

Die rationale Interessengemeinschaft erhält durch den Interessenkonflikt eine Gefühlsladung. Wir-Gefühl entsteht immer zugleich mit »Ihr-Gefühl«, das heißt es bildet sich ein Kraftfeld des Aggressionstriebes, das sich mit einem weiteren Kraftfeld des Geltungstriebes kombiniert. Denn wo es um »Wir« und »Ihr« geht, wird ein Vorkämpfer, ein »Führer«, auf den Schild erhoben, dem die andern zujubeln, solange er Erfolge erzielt; ein harmloser Vereinsvorsitzender, soweit es sich um Kaninchenzüchter handelt, ein schon weniger harmloser Gewerkschaftsboß, sofern es sich um Arbeitnehmer handelt, und ein politischer Funktionär, sofern das Wir-Gefühl eine gesellschaftliche Gruppe oder sogar die ganze Nation umfaßt. Bei den Kaninchenzüchtern wird das Wir-Gefühl keine Bereitschaft zeigen, für die gemeinsame Sache zu sterben. Wir wissen aber aus der Erfahrung, daß die emotionale Ladung eines Wir-Gefühls bis zu einer solchen Bereitschaft eskalieren kann. »Wir Sansculotten« in Frankreich 1789, »Wir Garibaldianer« in Italien 1858, »Wir Deutsche« im Wilhelminischen Reich 1914, »Wir Proletarier« in Rußland 1917, »Wir Schutzbündler« in Österreich 1924, »Wir Nationalsozialisten« in Deutschland 1933, »Wir Amerikaner« nach Pearl Harbour 1943, »Wir Palästinenser« 1968, »Wir Anhänger des Ayatollah Chomeini« 1979 – was ist diesen intensiven Wir-Gefühlen gemeinsam? Offenbar ein gemeinsames Unrechtserlebnis.

Jedem dieser »Wir« entsprach ein »Ihr« – Ihr, die Ihr unser Rechtsempfinden empörtet, Ihr Bösewichte! Wie Lichtstrahlen von einer Linse werden die Empörungen der einzelnen von einem Subjekt des Geschehens auf einen Brennpunkt gelenkt. Die Objekte des Geschehens entdecken, daß ihr Unrechtsempfinden von vielen andern geteilt wird. Sie entdecken die von ihrer Vielzahl getragene Macht, und sie entdecken die Möglichkeit, durch Einsatz dieser Macht das Unrecht zu beseitigen. Im Brennpunkt der koordinierten Aggressionstriebe stehen die von den Subjekten des Geschehens plakatierten Bösewichte. Weil es sich um Bösewichte handelt, wird die Aggression automatisch als »gut« qualifiziert. Welche Wonne, mit gutem Gewissen aggressiv werden zu dürfen! Ist das Objekt der Aggression als böse erkannt, erhält die auf seine Beseitigung zielende Verhaltensweise automatisch die Qualifikation »gut«. Damit wird das Ichwert-Bewußtsein eine Verhaltensweise des Ist-Ichs als wünschenswert qualifizieren, die den Vergleich mit den übrigen Empörten aushält. Der Geltungstrieb verlangt, es ihnen an Mut und Opferbereitschaft gleichzutun. Geht es nicht anders, wird das Töten der bösen Feinde nicht nur vom Gewissen toleriert, es wird sogar glorifiziert.

Die oben angeführten Beispiele wurden so gewählt, damit klar wird, daß ein Wir-Gefühl sowohl ein staatsordnungsgemäß wünschenswertes Verhalten tragen kann (Tod fürs Vaterland) als auch ein staatszerstörendes Verhalten (Beseitigung seiner Führungsschicht). In beiden Varianten ist die subjektive moralische Motivation dieselbe und eine objektive Motivation unmöglich. Denn die objektive Motivation würde auf der Gegenseite vollkommene Bösewichte voraussetzen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Kein Bösewicht wird vor einer objektiven Instanz um Argumente verlegen sein, die seine Handlungsweise vor sich selbst rechtfertigten. Die unerhörte staatsbildende Begabung der alten Römer kommt in der scharfen sprachlichen Unterscheidung der beiden Feindbezeichnungen »hostes« und »inimici« zum Ausdruck. »Hostes«, Staatsfeinde, zu töten, ist staatsordnungsgemäß wünschenswert – je mehr, desto besser. »Inimici«, persönliche Feinde, zu töten, ist hingegen staatsordnungsgemäß nicht wünschenswert, es wird bestraft. Im Bürgerkrieg freilich, der die Staatsordnung zerstören will, werden »inimici« zu »hostes«. Mitglieder einer moralisch empörten Masse töten Mitglieder einer anderen, entgegengesetzt empörten Masse, weil das im Genom eingebaute Gebot »Du sollst nicht töten!« nur die »inimici« und nicht die »hostes« betrifft. Die »hostes« stehen außerhalb des Solidaritätskreises, ihre Bosheit braucht nicht bewiesen zu werden; wer sie bezweifelt, ist kein guter Patriot oder – kein guter Anarchist. Allein die emotionale Ladung der von einem Wir-Gefühl erfaßten Menschen entscheidet über die Art der Aggression: ob sie sich im verbalen Rahmen hält, wie bei der Attacke eines Oppositionsführers gegen einen Regierungssprecher, oder diesen Rahmen sprengt und brachial wird, wie bei der Attacke eines Demonstrationsführers gegen die Polizei. Die emotionale Ladung wird ihrerseits von der Intensität des Unrechtsempfindens bestimmt, das als gemeinsames Erlebnis das Wir-Gefühl zeitigte.

Ist das Objekt des Zorns eines Oppositionellen, der selbst einmal Minister zu werden wünscht, ebenfalls ein Minister, dann wird die emotionale Ladung theatralisch übertrieben wirken, und man wird für das Leben des Angegriffenen nicht fürchten müssen. Die Gefolgschaft, die den Theaterdonner spürt, wird sich damit begnügen, ihren Unmut verbal abzureagieren.

Ein zu einem Erzbösewicht hoch stilisierter Vertreter der staatlichen Exekutive wird jedoch damit rechnen müssen, daß er zu den »hostes« der Gruppe gehört, die deshalb vor Mord nicht zurückschreckt. Wird mit staatszerstörendem Ziel getötet, dann rechtfertigt die Handlung vor dem Gewissen des Täters die Vorstellung eines besseren Staates, den es zu erkämpfen gilt. Diese Vorstellung ist, wohlgemerkt, sekundär, sie ist eine Hilfskonstruktion, die der Aggressionstrieb braucht, um vor dem Ichwert-Bewußtsein positiv qualifiziert zu werden. Als Hilfskonstruktion genügt im Zustand emotioneller Erregung ein Phantasma.

Nüchterne Menschen haben hierfür ebensowenig Verständnis wie für einen Trunkenheitsexzeß. Der einem exzessiven Trieb verfallene Mensch hat auch tatsächlich viel mit einem Trunkenen gemeinsam. Er wird, sobald er emotionsfrei wurde, entdecken, daß die »hostes« gar keine so schlimmen Bösewichte sind und die Tötenden keineswegs heldische Menschen. Aber ein emotionsfreier Zustand ist nur für den Menschen in der Vereinzelung denkbar, nie für eine noch so kleine Masse.

Dies ist die furchtbare Realität im Hintergrund der Geschichte:

Wer Macht erringen oder Macht betätigen will, muß irgendwelche Bösewichte vorfinden oder erfinden. Die Menschen stehen unter dem Zwang ihres eigenen Emotionstriebes, der den Lustgewinn der Entrüstung sucht. Wer diesen Lustgewinn bietet, gewinnt Macht über Menschen, eine Gefolgschaft, die ein intensives Wir-Gefühl verbindet, wenn ihre Mitglieder denselben Tatbestand als schreiendes Unrecht empfinden oder als tödliche Beleidigung. Selbst die Herrscher von Gottes Gnaden mußten ihre zwecks Mehrung des Reiches unternommenen Kriege zur Hebung der Moral ihrer Truppen als »aufgezwungen« deklarieren, aufgezwungen von auswärtigen Bösewichten, deren Beleidigungen hinzunehmen mit der Ehre unvereinbar sei.

In den Augen der Subjekte des Geschehens ist jeder ein Bösewicht, dem die Fähigkeit zugetraut werden kann, Macht streitig zu machen; seine Gefolgsleute sind »hostes«. Bestünde dieser Satz nicht zu Recht, könnte es keine Geschichte gegeben haben. Niemand kann die Millionen zählen, deren Leben diesem Umstand zum Opfer fielen. Der Utopist Kar! Marx hielt die Gültigkeit dieses Satzes für beschränkt auf die Epoche des Feudalismus und des Kapitalismus. Die Wirklichkeit jedoch erwies die Gültigkeit des Satzes auch für den Bereich, in dem die marxistische Ideologie herrscht. Innenpolitisch toben die Machtkämpfe zwischen den Funktionären, außenpolitisch werden in Moskau die Chinesen, in Peking die Russen in den Rang von Bösewichten erhoben.

Kann überhaupt jemand Macht erwerben, ohne einen Bösewicht plakatiert zu haben? Ohne Gefolgschaft ist Machterwerb unmöglich. Die Gefolgschaft braucht freilich nicht unbedingt zu brachialem Kampf entschlossen zu sein, in der zivilisierten Atmosphäre der Mehrparteien-Systeme genügt eine Akklamation. Aber die Akklamation setzt voraus, daß andere Kandidaten als Bösewichte empfunden werden, die im Verdacht stehen, die Macht nicht so zu gebrauchen, wie es für richtig gehalten wird. Die Emotion des Wir-Gefühls derjenigen, die gemeinsam das eine für richtig und das andere für verderblich halten, muß für den Machterwerb entfacht werden – sonst fällt der Kandidat durch. Rhetorik – das ist die Kunst, den Emotionstrieb der Gefolgschaft den eigenen Machtinteressen dienstbar zu machen. Ein Mann, der in einer Versammlung gelassen und ruhig von einem Manuskript die Argumente abliest, die er für seine Ansichten ins Treffen führt, braucht gar nicht erst zum Kampf um die Macht anzutreten, wären seine Argumente auch noch so zwingend. Wer hingegen den Emotionstrieb richtig zu manipulieren versteht, braucht gar keine Argumente. Er muß lediglich einen emotional stark wirkenden Bösewicht plakatiert haben, den es im Zaum zu halten oder niederzuwerfen gilt. Es muß zwar nicht jeder selbst ein Bösewicht sein, der einen anderen erfolgreich zum Bösewicht stempelt. Aber die der Beredsamkeit innewohnende Faszinationskraft wirkt im Sinne einer oft negativen Auslese der Machtkandidaten, nicht nur in den Mehrparteien-Systemen, sondern auch in den Einpartei-Systemen. Wollen sich letztere an der Macht erhalten, brauchen sie Männer, die »ankommen«, die es verstehen, Emotionen zu wecken.

In den weniger entwickelten Ländern gibt es keinen Mangel an auswärtigen Bösewichten, die sich für den innenpolitischen Gebrauch eignen. Noch ist für die Griechen der Türke, für die Araber der Israeli, für die Schwarzen der Weiße als Objekt des Zornes selbstverständlich, das Wir-Gefühl der Nation ist noch stark. In den reichen Industrieländern sind viele, einst mit durchschlagendem Erfolg kreierte Bösewichte allzu abgenutzt – innenpolitisch Fürsten und Aristokraten, außenpolitisch die einstigen »Erbfeinde«. Mit Erfolg verwendbar ist nur mehr der Funktionär innerhalb der eigenen Nation, vor allem der Funktionär, der im Namen der Habgier waltet, der Top-Manager und der Kapitalist. Außenpolitisch wird der Emotionstrieb frustriert, er kann sich daher nur an innenpolitischen Objekten entladen – da aber mit gesammelter Wucht. Die angestrengte Suche der jungen Menschen nach Bösewichten im Innern ist daher für alle entwickelten Industrieländer kennzeichnend.

Theoretisch ist es das Anliegen eines edlen Jünglings, sich mit den »Armen und Entrechteten« gegen ihren bösen Bedrücker zu solidarisieren. Das aber wurde in den letzten Jahren schwierig. Denn auch das Wir-Gefühl der Klasse wird schwächer, seitdem der Metallarbeiter einen teureren Wagen fährt als der Regierungsrat. Die NivelIierung der materiellen Lebensbedingungen ließ vielmehr eine andere Kluft immer deutlicher hervortreten; die zwischen abstrakt Denkenden und konkret Denkenden. In einem Gefangenenlager konnte man bereits vor dreißig und vierzig Jahren die Bedeutung dieser Kluft wahrnehmen. Der kapitalistische Bauunternehmer wird sich schnell mit jedem Handarbeiter zusammenfinden, der Intellektuelle jedoch weder mit dem einen noch dem anderen.

Der nicht intellektuelle Kapitalist und der Proletarier denken beide konkret, ihre Sprache ist dem anderen verständlich und ihre Verhaltensweise gegenüber den Pressionen der Umwelt eines Arbeitslagers ähnlich. Die deshalb eines Wir-Gefühls fähigen Menschen schließen sich von anderen ab, die gewöhnt sind, ohne Rücksicht auf die konkreten Dinge in Begriffen zu denken. Sie können zu ihnen keinen Kontakt finden, sie erscheinen ihnen infolge der Exklusivität ihrer Ausdrucksweise rätselhaft, ja bei gegebener Antipathie sogar hassenswert.

Denkt man sich den Faktor »Neid« weg, dann gibt es keinen Klassenhaß zwischen Arm und Reich, Mächtigen und Ohnmächtigen, sondern nur zwischen Intellektuellen und Nicht-Intellektuellen. Die Bemühungen der Intellektuellen, sich den Menschen, die ehrlich mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen, anzubiedern, sind vergeblich, solange sie letzteren nicht einen konkret greifbaren Vorteil- z. B. Lohnerhöhung – in Aussicht stellen. Mit abstrakten, systemverändernden Zielvorstellungen bleiben die Intellektuellen unter sich. Ihre Proletarisierung macht sie freilich zu einem das System destabilisierenden Faktor. Je geringer die Chance, nach Studienabschluß in dem Hafen wohlgesitteter Bürgerlichkeit zu landen, desto radikaler der Wunsch nach Systemveränderung.

Im Vergleich zu einem halben oder ganzen Jahrhundert früher sind in den modernen Systemen die durch ein Wir-Gefühl gebundenen Gruppen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung klein. Das gemeinsame Hobby muß die einstige Gesinnungsgemeinschaft ersetzen. Gewiß gehören gemeinsame verbale Aggressionen ebenso zum Alltag wie Streikaktionen, die vorübergehend eine von gemeinsamer Empörung getragene Solidarität ermöglichen. Aber nur bei temperamentvollen Völkern reicht es für jene heroische Bereitschaft, wie sie einst auf Barrikaden dokumentiert wurde.

Dies gilt allerdings nur für die lediglich mit durchschnittlichem Aggressionstrieb ausgestattete Mehrheit. Die extrem Aggressiven, die ohne einen Bösewicht als Objekt nicht leben können, sind nach wie vor da, und sie sind möglicherweise zahlreicher als zuvor, weil die triebhemmenden Faktoren allgemein rückgebildet wurden. In den entwickelten Industrieländern ist es allein die Stadtguerilla, die sie mit Wir-Gefühl und Aggressionsmöglichkeiten zugleich fasziniert.

Diese nur teilweise als anarchistisch – im Sinne Bakunins – einzustufenden Gruppen empfinden diejenigen, die sie entführen oder töten, als »hostes«. Sie können sich nur mit Menschen identifizieren, die das gleiche Bild eines Bösewichts in sich tragen. Daher sind sie auch des Mitleids mit Harmlosen unfähig, weil sie sich mit ihnen nicht identifizieren können. Im Bedarfsfall werden solche Harmlose ohne Bedenken erschossen. Dieselben Aggressiven wären im Krieg eines todesmutigen Spähtruppunternehmens fähig, sie würden als Helden bewundert und hoch ausgezeichnet werden. Mangels äußeren Feinden müssen sie ihre Triebbefriedigung im Innern des Systems suchen. Daher werden sie keineswegs ausgezeichnet, sondern eingesperrt, falls man ihrer habhaft wird.

Nun hat die Intellektualisierung bei der schweigenden Mehrheit zu einer gewissen Toleranz geführt. Verstehen heißt verzeihen. Von Jahr zu Jahr verstand man mehr: beispielsweise den Lustmörder, der für seine abnorme Triebstruktur nichts kann und daher als Kranker, nicht als Verbrecher zu begreifen wäre. Konsequenz dieses Verständnisses ist das Urteil, es gäbe überhaupt keine Verbrecher, sondern nur Kranke, die infolge ihrer Umweltbedingungen normale Impulshemmungen nicht ausbilden konnten. Das System hätte daher kein Recht zu strafen, sondern die Pflicht zu heilen. Man versteht heute den Freibeuter Klaus Störtebecker, den die Bürger der Hanse verabscheuten und mit Genuß hinrichteten, als einen Helden, der die reichen Pfeffersäcke mit Erfolg schröpfte. Auch Andreas Baader und Ulrike Meinhof werden einst mit Erfolg auf die Bühne gebracht werden. Allerdings erst in der übernächsten Generation. Väter können, solange sie leben, nicht Gegenstand der Heldenverehrung sein. Das verhindert der von Sigmund Freud in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts entdeckte und von den Politikern und Soziologen viel zu wenig beachtete Ödipuskomplex. Ob nun die von Freud gebotene Erklärung – Mordgelüst gegen den Geliebten der Mutter – akzeptiert wird oder nicht, Tatsache bleibt jedenfalls, daß nach der Pubertät die Söhne regelmäßig gegen ihre Väter revoltieren und diese feindselige Attitüde meist bis zur eigenen Familiengründung beibehalten.

Die arterhaltende Zweckmäßigkeit des Ödipuskomplexes liegt auf der Hand: der flügge gewordene Jüngling will in den Kampf ums Dasein, und sein Geltungstrieb verlangt, ihn so zu führen, wie es ihm gefällt, keinswegs gemäß einer väterlichen Anleitung. Die Söhne der von Napoleon geschundenen Generation wollten zunächst nichts von einer Restauration des Kaiserreiches in Frankreich wissen, die Enkel jedoch begeisterten sich an dem Heldenmythos des ersten und ermöglichten die Machtergreifung des dritten Napoleon, gelangweilt von dem Wohlstand einer langen Friedensperiode. Desgleichen fanden die Söhne der Zeitgenossen des Dritten Reichs Reproduktionen aus Wochenschauen der damaligen Zeit unverständlich oder lächerlich. Manche Enkel dagegen begeistern sich für nationalsozialistische Symbole um so stärker, je mehr sie mit dem Reiz des von den Vätern Verbotenen ausgestattet sind. Kann der Jüngling bei seinen Zeitgenossen nichts Heldisches entdecken, muß er es in früheren Generationen suchen, bei den Großvätern und Urgroßvätern. Die Leitbilder der Väter interessieren ihn nur als Gegenstände der Verachtung.